Wir freuen uns, dass wir wieder für Sie spielen können! Doch sind wir uns darüber bewusst, dass die Pandemie nicht einfach vorübergehen und dann „alles wieder gut“ wird. Die Folgen der Corona-Krise werden sich erst noch zeigen. Auch vorher war nicht alles gut. Das hat uns als Ensemble und Team des Schlosstheaters in der zurückliegenden spielfreien Zeit beschäftigt, und die künstlerische Auseinandersetzung damit soll nun wieder umso mehr unser Anliegen sein. In diesem Sinne – als Reflexion und Ausblick – haben wir einige unserer Gedanken hier zusammengefasst, die unsere teilweise unterschiedlichen, teilweise geteilten Sichtweisen widerspiegeln. Unsere Gemeinsamkeit steckt dabei vor allem zwischen den Zeilen; sie besteht im Austausch selbst. Vielleicht finden Sie Anknüpfungspunkte. – Das Theater als Raum der Begegnung, des Austauschs und Diskurses hat uns sehr gefehlt und über die nun wieder mögliche analoge Begegnung mit Ihnen sind wir von Herzen froh!
Die soziale Ungleichheit war für mich noch nie so sichtbar wie jetzt.
Wir erleben die Pandemie nicht gleich, sie trifft uns unterschiedlich hart, und damit schwindet das Gemeinschaftsgefühl und Verständnis füreinander.
Die Pandemie wurde von Menschen verursacht und im Umgang damit offenbart sich, wie viel an unserem System und den Prioritäten der Gesellschaft falsch läuft
Wir erleben derzeit eine enorme Verdichtung von Krisenerscheinungen, die begleitet werden von einem erschreckenden Ausmaß sozialer Spaltung und Entsolidarisierung!
Wie lange soll das Märchen vom endlosen Wachstum weitergehen, wie lange die Ausbeutung des globalen Südens?
Als sei dies alles nicht genug, vollzieht sich für alle sichtbar im Hintergrund die viel größere Katastrophe: die Klimakrise. Jede dieser Krisenerscheinungen wird von der Politik aber nicht bewältigt, sondern lediglich verwaltet.
Ich beobachte, dass die Menschen / die Gesellschaft / die Politik / wir nicht bereit sind aus der Dauerkrise seit dem Bankencrash 2007 ernsthafte Konsequenzen zu ziehen und den Umbau unseres Wirtschaftssystems anzugehen, das (im Wesentlichen) für all diese Krisen verantwortlich zu machen ist.
Die Infragestellung der Privatisierung der Gesundheitsbranche. Die Abkehr vom Diktat des Wachstums und die Hinwendung zu einer Ökonomie, die nachhaltig abseits des Schlagwortes ist: sozial, kulturell, ökonomisch und ökologisch nachhaltig.
Digitalisierung und Homeoffice sind keine solchen tiefgreifenden und benötigten Veränderungen, sondern lediglich die weitere Erschließung neuer Marktnischen bzw. Einsparungsmöglichkeiten an Mensch und Raum.
Wir treffen viel öfter und schneller Konsumentscheidungen (‚just in time‘), als wir in demokratische Entscheidungen eingebunden sind. Manche Grundrechte scheinen uns sogar hinderlich dabei.
Außerdem zeigt sich auch jetzt das Systemrelevanz nichts mit Solidarität zu tun hat! Denn welche Berufe wurden so bezeichnet? Entweder sind es Daxunternehmen (Lufthansa) oder der ‚Niedriglohnsektor‘ (Lebensmittelindustrie, Supermarkt, Pflege, etc.). Der Begriff der Systemrelevanz lässt also Rückschlüsse auf das System zu!
Viele wünschen sich ja den Zustand von vor dem März 2020 zurück. Auch wir als Theater schauen viel zu sehr auf uns, ob und wann wir wieder spielen können, anstatt uns mit anderen zu verbinden.
Ich sorge mich, dass das, was ich liebe, „den Umständen“ zum Opfer fällt. Z.B. das Theater.
Ich habe Angst davor, dass die Zeit ein Kreis ist und den Menschen die Möglichkeit ihres Kampfes für das Ausbrechen aus dem Kreis qua Willen und Vernunft und gefestigter Überzeugung zunehmend abgesprochen wird.
Ich sorge mich, dass es das „gesellschaftliche Wir“ bald nicht mehr gibt, sondern dass es in einzelne Gruppen zerfallen sein wird, die sich gegenseitig so sehr verachten, dass ein Gespräch und eine gemeinsame Lösung nicht mehr möglich sein wird.
Differenz auszuhalten, scheint offenbar schwierig geworden zu sein. Dies ist ein beängstigendes Phänomen, das allerdings nicht nur im Zusammenhang mit Debatten über Corona-Maßnahmen auftritt.
Und ich sorge mich, dass das Knäuel immer größer und größer und komplexer und ambivalenter wird, und wenn ich jetzt noch nicht den Durchblick habe, wann denn dann?
Die wahnwitzige Gleichzeitigkeit des Geschehens, die Absurdität der Parallelität von Beschleunigung und Stillstand, den Zwang mitzumachen, während ich immer weniger wirklich aktiv handle…
Ich mache mir Sorgen, dass unser demokratischer Diskurs, der darauf beruht, dass man zwischen unvereinbaren Standpunkten einen Interessenausgleich schafft, einer als alternativlos dargestellten Politik der vermeintlich einzigen und besten Lösung weicht.
Deshalb ist es mir auch so wichtig, das Theater als Debattenraum zu behaupten!
Jeder sammelt seine Brocken an Wissen und Erfahrungen und setzt diese dann zu einem anderen Bild zusammen. Die Stellen, die bröckeln, werden festzementiert.
Es ist irgendwie eine wellenförmige Entwicklung seit einem Jahr und ich war grade auf hoher See bei Unwetter. Nun bin ich noch nass, aber dem Grollen entkommen.
Gesamtgesellschaftlich wünsche ich mir eine Solidaritätsbewegung, die es schafft, sich klar demokratisch, antikapitalistisch und antifaschistisch zu positionieren!
Worte und Regenbögen haben 2021 endgültig ihren Sinn verloren und ihre Kraft. Phrasen, Parolen, Hashtags öden mich nur noch an, auch wenn ich sie mangels Alternativen selbst benutze. Als würde man mit uralten Zaubersprüchen einen gehörlosen, müden Dschinn beschwören wollen (z.B. „Solidarität“) – aber man müsste neue Zaubersprüche erfinden…
Seit Corona ist es zwar noch schwerer, aber auch noch wichtiger, aus seiner eigenen Bubble herauszutreten und andere Lebensrealitäten wahrzunehmen.
Manchmal wünsche ich mir einen medialen Blick, der auch dahin schaut, wo Zwischenmenschlichkeit funktioniert, wo Hass und Diskriminierung etwas entgegengesetzt wird.
Ein schonungsloses Auge zu besitzen, das nichts beschönigt und nichts vereinfacht, sondern hinsieht und differenziert – aber Worte, die sich um die Verbindung des Auseinanderanalysierten bemühen.
Ich bin so müde. Ich fühle mich eingerahmt von Regeln, einem endlosem Kreis von schlechten Nachrichten, Begrenzungen, von einem allgemeinen Weltschmerz. Starr sitze ich als Bild, unausgelastet und gleichsam voller Müdigkeit. Ich bin eingefroren, sitze einfach nur da und beobachte das ganze Geschehen.
Den Verstand dafür zu benutzen, beides, das Auseinanderhalten und das Zusammenbringen wiederum auseinanderhalten zu können.
Die Meinungsbubbles in den sozialen Netzwerken funktionieren hingegen wie spießige Dorfgemeinschaften in den 50ern.
Ich bin überzeugt wir müssen uns darum bemühen, gegen eine unterkomplexe Welt aus Like und Dislike, aus „Teilen“ oder „Shitstorm“ anzuarbeiten. Das Aushalten von Differenz und Dissens muss geübt werden.
Ich wünsche mir, dass wir alle zusammen den Humor nicht verlieren.
Ich wünsche mir, dass es bei den lautstarken Debatten und Kampfansagen auch noch Platz und Mut gibt für Zartheit, für Zweifel und für Fragen. Und dass wir Fehler machen und darüber sprechen können. Sonst kann sich ja gar nichts verändern.
Diese(r) Krise(n) können wir nicht alleine begegnen!
Die Stimmen von Ensemble und Team des Schlosstheaters Moers, Mai 2021